Wissenschaftliches & Persönliches

Wissenschaftliches & Persönliches

Es gibt eine wissenschaftliche Lebensstudie zu Glück und Gesundheit. Diese Harvard-Studie begleitet seit dem Jahr 1938 über 700 Menschen, um zu untersuchen, was relevant für unser Wohlbefinden ist. Der Vortrag zu dieser Studie dauert ca. 12 Minuten, ist sehr sehenswert und kann hier gleich angeschaut werden (ggf. Untertitel in Deutsch einschalten).

Die Zusammenfassung aus mehr als 75 Jahren Lebensforschung: Die Qualität guter persönlicher Beziehungen, sind der Schlüssel für Glück und Gesundheit, nicht Reichtum oder Ruhm oder sonstiges. Das alles ist wissenschaftlich belegt und veröffentlicht seit ein paar Jahren. Nun müsste unsere sachliche Ratio aktiv werden und diese Fakten direkt in unsere Bildung, Gesundheit, Politik, Wirtschaft und persönliches Miteinander integrieren.

Dass dies kaum geschieht, scheint mir sehr menschlich. Auch ich bin der lebendige Beweis, dass Informationen und Wissen allein nicht reichen, mein Leben zu verändern. Meine persönlichen Erfahrungen, nicht die Studie, waren die Auslöser, mich der menschlichen Verständigung zu widmen. Im menschlichen Austausch erlebe ich immer etwas Neues mit der Herausforderung, etwas zu verändern oder an etwas Bekanntem festzuhalten.

Veränderungs- bzw. Bewahrungskräfte

Die schönste und einfachste Art der Veränderung geschieht, wenn mich etwas begeistert. Oder mein (soziales) Umfeld beeinflusst mich mit seinen Energien. Ich habe mal im Urlaub mit dem Rauchen aufgehört, weil erstens, meine Begleitung auch nicht mehr rauchte und zweitens, ich mir mit meinen Zigarettenkippen an diesem schönen Karibikstrand ziemlich doof vorkam.

Ich kenne viele Situationen, in denen mir meine Gefühle nicht oder nur teilweise bewusst sind. Das geschieht oft, wenn ich diese Gefühle nicht mag oder nicht mit ihnen umgehen kann. Angst vor der Angst oder anderen Gefühlen sind häufige Hindernisse, gewohntes Denken und Verhalten zu verändern. Meine Angst ist dann sehr trickreich, meine eigenen Widersprüche entweder nicht zu sehen, oder diese argumentenreich auf andere zu projizieren.

Die Angst ist unser wichtigster Wegweiser auf der Suche nach einem gelingenden Leben.

Gerald Hüther, „Wege aus der Angst“; 2020

Ich kann mir viele meiner Bewahrungstricks psychologisch erklären. Unsere Wissensgesellschaft liefert sehr viele Publikationen dafür. Aber diese Erklärungen spenden mir nicht die Veränderungsenergie, die ich brauche. Im Gegenteil: Ich werde passiver, vielleicht weil mein Denken eine Antwort hat. Vielleicht auch, wel ich meine Macht an jene abgebe, die ich mit ihren Erklärungen als „Experten“ akzeptiere. Mein Streben nach Wissen ist irgendwie eine ständige Suche nach Beruhigung, nach etwas Verlässlichem, was mir das Leben mit Freude und Leiden erklärt.

Ich kann rechnen und schreiben und fühle mich damit sicher. Aber meine ständig veränderlichen Gefühle, Gedanken und Triebe? Ich hab den Umgang damit nicht in Schule und Uni gelernt. Dort galt die sachliche Sicht als die intellektuelle Überwindung des Geistes über das Emotionale. Ich hab es probiert, aber es funktionierte nicht. Im Gegenteil, es stauten sich eher die Emotionen und Gefühle und suchten sich andere Wege sich auszudrücken.

Wissenschaft wird von Menschen gemacht…

Die Idealisierung einer sachlichen objektiven Sicht, bei gleichzeitiger Geringschätzung persönlicher Emotionalität, hat hinderliche Konsequenzen. Die eigene Emotionalität wird verdrängt und in der Folge unbewusst. Das hilft leider auch nicht der Wissenschaft selbst. Die Wissenschaftsgeschichte zeigt viele Beispiele, bei denen die Arbeit junger Forscher von (älteren) Professoren als unsachlich/unwahr usw. abgelehnt wurde, obwohl diese sich später als das bessere Erklärungsmodell durchsetzen.

Meine Erfahrung dazu ist: Wenn ich mich lange mit einem Thema beschäftige, entwickle ich das Gefühl, dass ich etwas weiß. Für diese Kompetenz habe ich etwas von mir gegeben – und sei es „nur“ Lebenszeit. Dieses angeeignete Wissen wird Teil meiner Persönlichkeit. Wenn dieses Wissen nicht mehr richtig sein soll, dann ist das für mich so, als wäre ICH nicht mehr richtig. Ich habe die Perspektive „Ich werde persönlich angegriffen!“. Außerdem kenne ich bei mir auch Gefühle von Ungerechtigkeit und Neid, wenn jüngere Menschen leichter oder schneller etwas erreichen, wofür ich jahrelang gerungen habe.

Wir irren uns empor.

Gerhard Vollmer oder Harald Lesch oder …?

Ging es den Professoren emotional vielleicht ähnlich wie mir und sie haben (unbewusst) ihre Emotionen nur in sachliche Argumente verpackt? Ich-Offenbarungen sind in der akademischen Welt weniger zu finden. Dabei sind Wissenschaftler*innen auch nur Menschen wie Du und ich, mit Gefühlen, mit Trieben und vielem Menschlichem mehr. Warum all dies heraus-idealisieren und das Verkopfte so preisen?

Wenn ich von weiter weg schaue, erscheint es mir, als ob ich etwas ähnliches sehe, wie aus der Zeit, als die Wissenschaft unter Schirmherrschaft von Königen und Kaiser zur Blüte erwachte. Es gibt viele besondere akademische Titel, die aneinander gereiht werden wie Adelstitel. Es werden wissenschaftliche Institute geschaffen, deren Leiter hofiert und geehrt werden. Die Konsequenz ist immer ein institutionalisiertes Machtgefälle. Wollte die Wissenschaft mit ihrer Aufklärung dem nicht entgegen wirken? Meine Klärung beginnt bei mir selbst!

Selbsterforschung als Teil der Wissenschaft

Unbewusstes bewusst werden lassen ist mehr als ein mentaler Vorgang. Da ist noch mehr an und in uns, was uns ein bewusster lernender Mensch sein lässt. Und jeder Mensch ist anders und einzigartig. Wenn das Persönliche, dass Subjektive äußerlich beobachtbar ist, gilt dies sicherlich auch für mein Innenleben, für meine Interessen, Bedürfnisse und Wünsche. Kenne ich diese und bin ich transparent damit? Ich plädiere dafür, dass jeder schulische oder akademische Weg auch die Selbsterforschung beinhalten sollte. Warum ist das sinnvoll?

  1. In der recht jungen Wissenschaft der Psychologie hat die Selbsterforschung wesentlich zu einer sehr dynamischen Weiterentwicklung beigetragen. Das hat u.a. die Erkenntnis bewirkt, dass in der Therapie, der/die Klient*in auch eine Expertenrolle hat. Die Begegnung auf Augenhöhe ist wesentlich für die gesunde nachhaltige Entwicklung in der Therapie und in jeder anderen Beziehung bzw. Verständigung – auch in einer wissenschaftlichen Kommunikation.
  2. Eine bekennende persönliche Perspektive erleichtert wesentlich den Austausch und öffnet mehr Möglichkeiten, der Einigung und Kokreation. Von mir und über mich zu sprechen, mich mit meinen Wünschen und Bedürfnissen zu zeigen, schafft deutlich mehr Klarheit für mein Gegenüber. Gleichzeitig eröffne ich mehrere Gesprächsebenen, die leichter sachliches und emotionales Zuordnen ermöglichen und es weniger unbewusst miteinander vermischen.
  3. Das Umgehen-lernen mit mir selbst erleichtert mir den Umgang mit meiner Umwelt. Ich erkenne meine eigene Vielfalt und die Vielfalt meiner Umgebung als bedeutsam für das Lebendige an sich. Ich erfahre zunehmend andere menschliche Fähigkeiten und Ressourcen als wesentlich und hilfreich, um mir die Welt zu erklären und mit Unerklärlichem und Komplexität umzugehen. Meine Persönlichkeit steht quasi auf immer breiteren Füßen.
  4. Aus einem Entweder-Oder Denken erwächst mehr ein ganzheitliches Sowohl-als-Auch Verstehen und Handeln. Dieses entspricht mehr dem Umgang mit einer komplexen Umwelt. Es hilft mir, Veränderungen im Leben zu integrieren, zu gestalten und mich für Neues zu öffnen.

Ich erlebe mit der Selbsterforschung noch weitere Vorteile. Mir Irrtümer einzugestehen, geht z.B. leichter, wenn ich mich nicht nur über meine intellektuellen Fähigkeiten definiere. Vermutlich hätte dies den o.g. Professoren geholfen, sich für die Arbeit ihrer Studenten zu öffnen. Vielleicht wäre den Harvard-Forschern der o.g. Studie früher die Erkenntnis gereift, die weibliche Bevölkerung in die Untersuchungen mit einzubeziehen.

Als ich mir den Irrtum eingestehen musste, das Emotionale intellektuell überwinden zu können, war ich schon über 40 Jahre alt. Ich möchte dazu beitragen, dass immer mehr Menschen ihr eigene*r ganzheitlicher Experte*In werden, mit all den Gefühlen, Trieben, die Teil unserer Natur sind. Das alles ist lernbar wie Fahrrad fahren.

Mein(e) eigene(r) Experte*In

Ich bin das, was am meisten Zeit mit mir verbringt und kann daher von mir gut erforscht werden. Dafür brauche ich all meine Sinne, meine Emotionen und Gefühle sowie mein Denken mit der Bereitschaft „nicht-zu-wissen“. Es hilft, so ehrlich wie möglich mit mir zu sein, gerade mit den Widersprüchen zwischen meinem Anspruch an mich und dem was ich real beobachte. Mein Bewusstsein wächst gerade dann, wenn etwas irritiert.

Wichtig in der Selbsterforschung ist aus meiner Sicht der ganzheitliche integrale Weg. ALLE Gefühle, Gedanken und Neigungen gehören dazu und sind Ressourcen fürs Leben lernen. Es geht nicht darum, mein Ego wegzumachen, sondern es zu integrieren. Selbsterforschung braucht auch andere Menschen als Spiegel. Es gibt viele Bücher und Beiträge. Dabei helfen mir die Beiträge mehr, in denen sich die Untersuchenden mit ihren persönlichen Erfahrungen inkludieren, wie z.B. Brenè Brown in dem folgenden Video (ca. 19 Minuten, ggf. Untertitel Deutsch einschalten).

Was gewinne ich für mich? Die Erforschung von mir selbst hat, wie bei der Aneignung von Wissen, den Effekt, dass ich mich kompetenter und sicherer fühle – allerdings direkter in Bezug auf mich selbst. Ich eigne mir meine natürlichen Ressourcen an, die ich bisher wenig genutzt habe. Meine Sicherheit gewinne ich zunehmend aus meiner bewusst erlebten Lernfähigkeit mit dem Leben umzugehen. Je mehr ich mir meine vielfältigen Emotionen erlaube, desto lebendiger fühle ich mich und stehe für meine Lebendigkeit ein.

All meine Selbsterforschung ist nicht egoistisch, denn ich sehe meine Umwelt als Spiegel und bin bestrebt, auch hier die Vielfalt und Lebendigkeit zu erhalten. Außerdem erweitere ich meine Möglichkeiten des Austauschs. Das liegt daran, dass wir Menschen nicht nicht kommunizieren können. Ja das doppele „Nicht“ stimmt (Paul Watzlawick). Verständigung ist ein Austauch mit weit mehr als nur Worten.

Verständigung und Evolution

Die Art der Verständigung zeigt viel über unsere gesellschaftliche Entwicklung. Die Kommunikation in öffentlichen Medien ist z.B. bestrebt, ihre Beiträge mit Experten zu untermauern, um die Glaubwürdigkeit zu manifestieren. Die akademische Welt verwendet Titel und Titelergänzungen für die Bestimmung des Expertenniveaus. Die Wirtschaftswelt hat ihre Titel genauso wie politische Strukturen. Immer wieder werden diese Titel und Rollen benannt und hervorgehoben.

All diese Experten- und Rollentitel führen bewusst oder unbewusst zu Beziehungen mit einem Machtgefälle. In Kombination mit der Idealisierung einer sachlich objektiven Sicht verstärkt es den Effekt, dass diese objektive Sicht von den „Experten“ beansprucht oder ihnen zugeschrieben wird. In der Folge entsteht häufig eine einseitige Kommunikation von oben nach unten, welche die wissenschaftliche Wahrheit beansprucht. Dieser Anspruch auf eine objektive Wahrheit ist eine weitere Entmachtung der Anderen. Das Machtlose und Wahrheitslose macht was mit uns Menschen…

Auch die machthabene Seite verliert wesentliche Fähigkeiten, denn mit dem Anspruch auf Wahrheit verlernt sie das Lernen. Einseitige Kommunikation ist vergleichbar mit einer Schallplatte. Die Schallplatte lernt nicht dazu, wie die o.g. Professoren nicht von ihren Studenten lernen wollten oder konnten. Egal, ob wir Titel und Rollen verwenden, es lohnt sich für alle Beteiligten eine Verständigung auf Augenhöhe anzuwenden.

Eine bekennende subjektive Kommunikation ermöglicht mehrere Wahrheiten, die parallel existieren, voneinander lernen und ggf. etwas Neues entwickeln. Verständigung zwischen Menschen, die ihre Subjektivität zum Ausdruck bringen, ist eine lebendige Erforschung des Lebendigen. Das Lebendige hilft sich gegenseitig. Es inspiriert und unterstützt sich über die Verständigung. Unsere Beziehungen sind die Grundlage für unserer Wohlbefinden und diese brauchen Begegnung auf Augenhöhe.

Begegnung und Verständigung auf Augenhöhe gibt Raum für individuelle Verantwortung, weil sie allen Beteiligten ihre Macht lässt und nicht entzieht. Diese breite Ermächtigung durch die Art der Verständigung ist auch möglich in wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und anderen gesellschaftlichen Beziehungen.

Wie kann eine Welt aussehen, in der wir lernen immer besser zu verstehen, verstanden zu werden und gemeinsam zu gestalten? Ich glaube, dass unsere wachsenden Fähigkeiten des Austauschs eine sehr hilfreiche Voraussetzung für unsere eigene menschliche Evolution sind. Eine humane Evolution, welche das Lebendige in sich und auf unserem Planeten Erde erhält und mehrt. Das wünsche ich mir.

Kein Physiker, kein Biologe, Ökonom oder Chemiker ist mehr Experte für das menschliche und politische Miteinander als alle übrigen Staatsbürger.

Frank Breyer frei nach Hans-Peter Dürr, „Weil es ums Ganze geht“; 2012